Anna-Lena Wenzel
Gesten einer Ausstellung
„Es [gehört] in der Kunstwelt beinah zum guten Ton, dass man als junge*r Künstler*in sein Werk mit einer Wolke aus Theoriereflexion umgibt. Allerdings ist das oft nicht mehr als eine Geste. Die Geste heißt Radikalität, und in vielen Fällen scheint sie sich selbst zu genügen. In dieser Variante ist Theorie zu Kunst geworden, dort zirkuliert sie und hat ihre neue Heimat gefunden, was aber auch bedeutet, dass sie ihre Rolle verliert, wenn sie aus diesem Feld austritt.“
Philipp Felsch1
„Aber was Jacques als Person in diesem Augenblick hervorhebt, ist immer noch kein Bild, es ist die sehr diskrete Geste, wie er mit dem Rücken seines Zeigefingers über mein Handgelenk streift.“
Catherine Millet2
Zum Einstieg zwei Zitate: Der Wissenschaftshistoriker Philipp Felsch widmet sich dem Verhältnis von Theorie und Kunst und spricht von der Geste als etwas, was nicht ganz ist, während die Autorin Catherine Millet die Kraft der Geste als Berührung benennt, die sich stärker einzuprägen vermag als Bilder oder Gesprochenes, wodurch das Potential angedeutet wird, das in der Geste steckt.
Ursprünglich kommt das Wort Geste vom Gebärdenspiel des Schauspielers, im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet die Geste eine Bewegung der zwischenmenschlichen non-verbalen Kommunikation, die insbesondere durch die Arme, Hände und den Kopf durchgeführt wird – so steht es jedenfalls im digitalen Wörterbuch3. Die Geste kann aber auch eine symbolhafte, indirekte Ausdrucksform sein, der etwas Potentielles anhaftet, weil sie Bewegungen eher andeutet, als ausführt oder real vollzieht. Oft spricht man von Gesten nicht im Sinne von konkreten Handlungen, sondern um die dahinterliegende Intention zum Ausdruck zu bringen, so wenn man sagt: „Das war eine nette Geste“.
Die Ausstellung Throwing Gestures widmet sich verschiedenen Gesten, die in Form von künstlerischen Arbeiten aufgegriffen, reflektiert und kontextualisiert werden. Die Spannbreite der untersuchten Gesten reicht von politischen über religiösen bis zu medialen Gesten, wobei ein Schwerpunkt auf den Grenzbereichen liegt, die sich zwischen Gesten der Macht, politischen und widerständigen Gesten, Protestformen und religiösen Handlungen sowie der Übernahme dieser Gesten durch die Popkultur und ihrer Verwendung in der Werbung auftun. Zwei weitere Fragestellungen ziehen sich wie Fährten durch die Ausstellung. Erstens: welche Rollen spielen die Medien bei der Interpretation und Verbreitung von Gesten? Wie stark sind sie an ihrer Verbreitung beteiligt und wie sehr werden Gesten in den Medien manipuliert?
Zweitens: Wie zielgerichtet muss bzw. wie ungerichtet kann die Geste sein, um eine Reaktion hervorzurufen? Liegt ihre Bestimmung in der Andeutung und Potentialität oder sollte sie konkrete Konsequenzen nach sich ziehen? Anders gefragt: Wo verlaufen die Grenzen zwischen „Symbolpolitik“ und konkreter Handlungsfähigkeit?
Die Ausstellung fokussiert auf solche Gesten, die in ihrer Gerichtetheit und politischen Ausrichtung nicht immer eindeutig sind. Das Interesse richtet sich auf die Grauzonen und Zwielichtigkeiten, die Gesten und ihren medialen Verstärkern innewohnen. Aus diesem Grund werden künstlerische Arbeiten und Situationen gezeigt, in denen zum Beispiel die Machtgeste leerläuft oder die widerständige Geste in Zerstörung mündet.
Die Ausstellung versammelt 13 Kunstwerke von 19 Künstler*innen. Neben den am Projekt The Entanglement between Gesture, Media, and Politics beteiligten Personen und ihren Kollaborationspartner*innen sind Arbeiten von vier weiteren geladenen Künstler*innen ausgestellt. Kuratiert und zusammengestellt haben die Ausstellung Florian Bettel, Dina Boswank, Timo Herbst, Konrad Strutz und Laurie Young. Viele der Kunstwerke sind kollaborativ entstanden, ein Zeichen für die enge Zusammenarbeit der Projektgruppe und Resultat von vier Workshops, die im zweijährigen Projektverlauf im Vorfeld der Ausstellung stattfanden.
In diesem Beitrag soll es neben der Auseinandersetzung mit dem Thema Geste in Form der künstlerischen Arbeiten auch um die Geste der Ausstellung gehen, also darum, was für Arbeiten ausgewählt und wie sie zueinander im Raum platziert wurden, wobei zunächst die künstlerischen Arbeiten und dann die kuratorischen Eingriffe beschrieben werden.
Bereits im Eingangsbereich werden die Besucher*innen mit der ersten künstlerischen Arbeit und kuratorischen Geste konfrontiert. Die Arbeit Inclinations von Jakob Argauer, Timo Herbst und Laurie Young besteht aus elf schmalen Rampen, die auf die Treppenstufen gelegt wurden und nur mit Socken betretbar sind. Sie sind so steil, dass man in Schräglage gerät, wenn man sie betritt. Der Zugang ist nicht wie selbstverständlich gegeben, man muss eine Entscheidung fällen, um in den Ausstellungsraum zu gelangen: Wagt man sich auf die Rampe und zieht die Schuhe aus oder weicht man ihnen aus? Rampen ermöglichen üblicherweise Menschen in Rollstühlen oder Gefährten wie Kinderwägen eine für sie unüberwindbare Schwelle zu überwinden. Während bei Inclinations also für die Einen Barrierefreiheit geschaffen wird, ist die Arbeit für Menschen ohne Gefährt eine Herausforderung evtl. sogar eine Gefahr. Entscheidend für die Intervention ist, dass sie den Eingang so umgestaltet, dass die Besucher*innen zum Handeln aufgefordert werden.
Eine weitere Arbeit, die räumlich eingreift, wenn auch nicht so zwingend wie die eben beschriebene, ist die Gemeinschafsarbeit G20 der am Projekt beteiligten Irina Kaldrack, Timo Herbst, Dina Boswank sowie ihrer Kollaborationspartner Marcus Nebe und Silas Mücke, die für mich zentral für die Ausstellung ist, da sie die Zusammenarbeit des Teams, die zugrundeliegenden Fragestellungen und die künstlerisch-wissenschaftliche Praxis aufs Tableau bringt. G20 ist eine mehrteilige Installation. Sie besteht aus Absperrgittern und zwei Monitoren, die auf der schmalen Empore im zweiten Stock platziert sind. Die Absperrgitter füllen den schmalen Gang fast vollständig aus, an seinem Ende ist ein Monitor an der Wand befestigt, der andere steht auf dem Boden. Es entsteht eine räumliche Situation, in der die Bewegungsfreiheit der Besucher*innen eingeschränkt wird, so dass auch in der Ausstellung die Gitter ihre Funktion erfüllen – allerdings nicht so radikal wie im Außenraum oder wie bei der Inszenierung der Arbeit in Leipzig. Auf einem der Monitore wird die Dokumentation einer Lecture-Performance gezeigt, die im Rahmen der Ausstellung G20 im Oktober 2018 im KV – Verein für Zeitgenössische Kunst Leipzig stattgefunden hat. Man sieht Irina Kaldrack Überlegungen zum Thema der politischen Geste vortragen, die auf verschiedenen Texten zum Thema basieren. Sie bewegt sich dabei in zwei abgedunkelten Räumen, an deren Wände Video- und Fotomaterial von Timo Herbst und Marcus Nebe projiziert wird, das sie bei Demonstrationen im Umfeld des G20-Gipfels in Hamburg 2017 aufgenommen haben, wodurch sich Text- und Bildmaterial auf gelungene Weise gegenseitig überlagern und durchdringen. Kaldrack widmet sich dem Begriffsgefüge von Geste und Handlung, symbolischem Gehalt und Zeichenhaftigkeit: „Protestgesten haben ein starkes Handlungsmoment und ein Zeichenmoment; eine Handlungsdimension und eine symbolische Dimension. Treten Gesten in Medien ein, verstärkt das ihre symbolische Dimension.“4
Die Arbeit vermittelt einen Eindruck der raumbezogenen, performativen, multimedialen Praxen sowie der theoretischen Recherchen, die im Rahmen des Projektes ausprobiert und miteinander verwoben wurden. Es wird ersichtlich, dass durch diese Zusammenarbeit Formen entstehen können, in denen sich die jeweiligen Hintergründe und individuellen Herangehensweisen der Beteiligten nicht auflösen, aber dennoch ein neues Gemeinsames entsteht.
Die Dokumentation wird ergänzt um die Videoansicht eines Polizisten bei den Protesten 2017 in Hamburg. Über diese Arbeit heißt es im Ausstellungstext, es würde sich um einen „unsicheren Polizisten“ handeln, „der eine zentrale Figur in der Auseinandersetzung um Protestgesten und dem Politischen in der gemeinsamen Arbeit gewesen ist.“5 Der Filmausschnitt zielt offenbar darauf, die übliche Wahrnehmung des Polizisten als „Bullen“ um eine Geste der Unsicherheit zu erweitern, wodurch der Polizist aus seiner Rolle fällt, ja seine Rolle nicht mehr ausführen kann, sodass die Erzählung des machtvollen, „gepanzerten“ und anonymen Gesetzeshüters brüchig wird.
Der G20 Gipfel in Hamburg und die sich daran anschließenden Proteste und Ausschreitungen sind auch Gegenstand der Arbeit Play by rules (Budapest, Istanbul, Hamburg) von Timo Herbst und Marcus Nebe. Die beiden Künstler haben die Aufnahmen aus Hamburg um Szenen aus Budapest (2015) und aus Istanbul (2016) ergänzt. In einer komplexen Rauminstallation werden fünf Videos projiziert, die sich auf die Momente der Bildmachung und der Nachrichtenproduktion konzentrieren. Statt nur Demonstrierende und Polizist*innen zu zeigen, werden die Pressevertreter*innen als dritte Gewalt in die Dokumentation des Geschehens miteinbezogen. Zu sehen ist ein reger Austausch zwischen den Beteiligten, so dass deutlich wird, dass diese das Geschehen nicht neutral dokumentieren, sondern das Geschehen aktiv mitgestalten. Obwohl es sich um drei verschiedene Kontexte (G20, Migrant*innenproteste und gescheiterter Putsch) handelt, ähneln sich die Formen der Reaktion und Kommunikation zwischen den Medienberichterstatter*innen und den Demonstrierenden. Neben der inhaltlichen Ebene, ist die Form der Installation entscheidend, denn sie „reproduziert und invertiert das Setting von Aufnahmetechnik der Nachrichtenteams im Außeneinsatz. Projektoren ersetzen Kameras auf Filmstativen und Projektionsleinwände ersetzen die Lichter auf den Lichtstativen“, wie es im Text über die Arbeit heißt.
Die mehrteilige Installation Zentralperspektive/Central Perspective von Dina Boswank widmet sich ebenfalls den Protesten und Ausschreitungen beim G20 Gipfel in Hamburg. Sie besteht aus einem Audiostück und drei Papierbahnen, auf die dasselbe Motiv in unterschiedlichen Formaten und Ausschnitten gedruckt ist. Zu sehen ist eine Situation mit mehreren schwarz gekleideten und vermummten Menschen in einem verwüsteten Supermarkt. Die Künstlerin hat Freund*innen gebeten, die auf dem Foto festgehaltenen Hand- und Armbewegungen zu beschreiben und zu kommentieren. Anschließend wurden sie gebeten, die Kommentare vorzulesen, woraus die Audioarbeit entstanden ist.
Die Arbeit provoziert Fragen nach der Politizität von Akten der Zerstörung, ja von Gewalt generell. Sind es Gesten des Widerstands oder der Zerstörung und der Rechtsverletzung, die auf dem Foto festgehalten sind? Sie stellt zugleich die generelle Frage, wie glaubwürdig Bilder die Realität abbilden können und weist auf den Spielraum der medialen Interpretation und Kontextualisierung hin. Interessanterweise sieht man keine Person tatsächlich etwas zerstören oder entfernen. Wobei genau hat man diese Personen also fotografiert? Hat man sie tatsächlich bei etwas „erwischt“ oder handelt es sich vielmehr um eine inszenierte Szene?
Im Projekt ten thousand times and one hundred more (2018) von Justine A. Chambers geht es ebenfalls um widerständige Gesten – wobei ein anderer Grenzraum untersucht wird. Auf dreißig Fotos sind mikropolitische Gesten einer Performerin an der Grenze zur Sichtbarkeit dokumentiert, die in Innen- und Außenräumen durchgeführt wurden. Sie werden ergänzt durch zwei A3 Poster. Auf einem ist der Titel der Arbeit horizontal und vertikal abgedruckt und wird in der Überlagerung unlesbar – nur fünf Zeilen sind einfach bedruckt, so dass man hier den Titel der Arbeit entziffern kann. Auf dem zweiten Poster sind zwei Anleitungen für Performances zu lesen, wobei eine jeweils auf dem Kopf steht. „Do not perform the gesture itself. Perform the transitions into or out of the gesture”, heißt es da. Eine Aufforderung die Geste als Bewegung zu denken, die sich nicht im Moment ihrer Durchführung erschöpft, sondern mindestens ten thousand times durchgeführt werden sollte.
Assad Waiting (2002/2018) von Florian Bettel und Barbara Lippe besteht aus einem Video, das den syrischen Diktator Hafiz al-Assad zeigt. Es handelt sich um dokumentarisches Film-Material, das deswegen ausgewählt wurde, weil es den Diktator in einer ungewöhnlichen Rolle zeigt – nämlich wartend. Wo sonst die Medien machtvolle und potente Gesten und Bilder von Politikern verbreiten, fällt diese Szene aus dem Rahmen – und ist aus diesem Grund nicht im Fernsehen gelaufen, sondern von den Künstler*innen im Archiv gefunden worden. Assad Waiting verweist auf die Rolle, die Medien bei der staatlichen und ideologischen Repräsentation spielen, und gibt einen Hinweis auf deren Manipulation und Beeinflussung.
Die Arbeit Lost Motion (2018) von Konrad Strutz greift die Frage auf, wie (un)gerichtet eine Handlung sein kann und fragt weniger nach der Sichtbarkeit, wie die Arbeit von Chambers und Young, als nach der Sinnhaftigkeit bzw. Effizienz von Bewegungen. Seine Installation besteht aus mehreren Teilen: Zwei synchronisierte Videos werden in unterschiedlicher Größe an zwei Wände projiziert. Drei kürzere Videos können auf kleinen Screens in eigens gebauten Guckkästen, die auf dem Fußboden platziert sind, betrachtet werden. In der Mitte der Installation ist ein Sockel aufgestellt, auf dem oben eine Drehscheibe befestigt ist, auf welche Objekte gestellt werden können, um deren Oberfläche rundum zu scannen und das entstehende Bild in die Videos zu integrieren. Die Arbeit ist so komplex, dass es unmöglich ist, sie auf eine Aussage oder Geste zu reduzieren, doch sind das formale Ensemble und die Aufsplitterung der Arbeit in seine diversen Bestandteile bereits eine Aussage, die es ebenso zu lesen gilt, wie den Inhalten der collageartig zusammengesetzten Bildwelten der einzelnen Videofilme nachgegangen werden sollte. Der Titel Lost Motion gibt einen Hinweis auf das verbindende Thema: Er ist den Motion and Time Studies entlehnt, wobei im Kontext dieser Methoden „Lost“ nicht als „verloren“, sondern als „verschwendet“ verstanden wird. Die Motion and Time Studies sind ein bestimmter methodischer Ansatz innerhalb der Bereiche von Verfahrens- und Automatisationstechnik, die die Effizienz von Arbeitsabläufen steigern sollten; ihnen setzt Konrad Strutz Aufnahmen entgegen, die ungerichtet oder ineffizient sind. Das führt dazu, dass man z.B. eine Schülerin sieht, wie sie eine Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammenbaut, wobei die Zeit gestoppt wird. In einem anderen Video führt eine Person gezielt umständliche Bewegungen aus. Die Arbeit ist so angelegt, dass es möglich ist, Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen zu ziehen, aber oft laufen diese Versuche auch ins Leere. Die Installation erkundet damit den diffusen Bereich, in der die Geste ins Nicht-Fassbare abdriftet – und wird dadurch selbst zu einer Konfrontation mit Kontingenz.
Einen Kontrapunkt zu dieser Arbeit stellt der Ausstellungsbeitrag von Irina Kaldrack und Tobias Schulze dar. Er ist an ein wissenschaftliches Poster angelehnt und versammelt kurz und übersichtlich Informationen und Fotos zu einem Antrag für das Projekt Tanzende Fäuste (2018). Laut des Posters möchte das Projekt politische Faustgesten auf musical.ly/TikTok einschleusen, um ihre Verbreitung zu erforschen und zu dokumentieren. Die Antragstellenden erhoffen sich Einblicke „wie in gegenwärtigen digitalen Kulturen Präsenz und Öffentlichkeit durch das Gestische hervorgebracht und moduliert werden.“ Das ganze Poster wirkt samt seiner formalen Antragssprache durchaus glaubwürdig, ist jedoch ein fiktiver Antrag. Ausgestellt in einer Kunstausstellung ist bereits das Format so ungewöhnlich, dass man sofort misstrauisch wird und es schnell als fake identifiziert. Was der Arbeit gelingt ist, dass sie die Hintergründe des Projektes in die Ausstellung holt: auch The Entanglement ist ein Drittmittelprojekt, das nicht nur zeitlich begrenzt, sondern (wie in den meisten Fällen), mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden ist.
Ebenfalls um eine Kooperation handelt es sich bei Point of Coincidence (Punkt des Zusammentreffens) (2018) von Bahaa Talis und Timo Herbst, nur dass diese in Echtzeit stattfindet und nicht als Dokumentation gezeigt wird. Es handelt sich um eine Performance, die während der Ausstellungsdauer täglich wiederholt wurde. Ausgangspunkt ist ein auf dem Boden ausgebreitetes Rechteck aus weiß gestrichenen MDF-Platten, das mit zwei Papieren belegt wurde. Für die Performance ziehen beide Künstler ihre Schuhe aus und betreten das Rechteck. Während Bahaa Talis ein muslimisches Gebet durchführt, zeichnet Timo Herbst auf dem Papier und reagiert auf die durchgeführten Bewegungen (das Niederknien, Vorbeugen und wieder Aufrichten). Das gezeichnete Ergebnis ist ein Netz von ineinander verschränkten Linien, die an geometrische Muster erinnern, zum Teil präzise ausgeführt, zum Teil nur angedeutet. Ähnlich wie die durchgeführten Gebetsgesten wiederholen sie sich und lassen sich potentiell unendlich ausweiten. Durch das gleichzeitige Ausführen dieser sich sonst kaum überschneidenden Handlungen öffnen sich Fragen zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Praktiken zwischen Routine, täglicher Praxis und vermeintlicher Einmaligkeit der künstlerischen Handlungen.
Die Ausstellung als Geste
Wird die Ausstellung als Geste mitgedacht und gelesen, geraten weitere Aspekte in den Blick, nämlich die kuratorischen Entscheidungen, auf der sie beruht. Welche Künstler*innen werden eingeladen und welche Kunstwerke ausgewählt? Wo und wie werden sie im Raum positioniert, so dass sich Bezüge und Spannungsfelder ergeben? Die Kurator*innen, die sich aus dem Team des Forschungsprojekts zusammensetzen, haben neben ihren eigenen Arbeiten und Kollaborationen, weitere Künstler*innen eingeladen ihre Werke zu zeigen, die „sowohl wichtige Referenzen im Forschungsprozess als auch für die Auseinandersetzung mit Geste signifikante Aspekte aufgreifen.“ Ausgewählt wurden vier künstlerische Positionen, die das Ausstellungsthema noch einmal in unterschiedliche Richtungen ausdehnen: in dem sie ästhetisierte Formen der Kritik zeigen (Jeremy Deller), diskriminierende Gesten verhandeln (Kerstin Honeit), die Frage der Kommerzialisierung von wiederständigen Praxen aufgreifen (Nasan Tur) oder im digitalen Raum spielen und damit die Frage des gewählten Mediums vertiefen nach dem Motto „The Medium is the Message“ (Larry Achiampong & David Blandy).
Kerstin Honeits mehrteilige Installation ich muss mit ihnen sprechen (2015/2016) besteht aus einem Video, in dem Film-Szenen mit amerikanischen Schauspielerinnen (bis auf eine sind es Women of Colour) – zu sehen sind, die von derselben Synchronstimme gesprochen werden. Die Individualität der unterschiedlichen Stimmen wird in der Synchronisierung auf eine einzige Stimme reduziert. Ein Phänomen der Entindividualisierung, das weiße Schauspielerinnen wohl nicht in demselben Maß betrifft.
Aus Jeremy Dellers mehrteiliger Arbeit sowie Ausstellungsprojekt All that is Solid Melts into Air (2014) sind zwei Objekte ausgestellt: Ein zwanzigminütiges Video, das auf einem am Boden liegenden Bildschirm gezeigt wird, und ein frei im Raum schwebende Banner. In beiden geht es um britische Arbeitsrealitäten – während der Industrialisierung und heute. Dabei geht Deller eklektisch vor und vermischt Populärkultur mit Protestformen und einem Kommentar zur heutigen durchökonomisierten Arbeitswelt.
Von Larry Achiampong & David Blandy ist die Videoarbeit FF Gaiden: Black Death (2017) ausgestellt, die sich ebenfalls auf Großbritannien bezieht und die Veränderungen durch den Thatcherismus in den Blick nimmt – allerdings mit einer radikal anderen Ästhetik, die sich in diesem Fall der Grafik eines Computerspiels bedient.
Bei Nasan Turs Demo Kits Deluxe (2009) spricht der Titel der Arbeit für sich. Es handelt sich um fünf auf Stäben aufgerollte Banner, die jeweils mit einer Spraydose versehen sind. Was gemeinhin auf Demonstrationen als Protestwerkzeug dient, wird hier zum Kunstwerk – und zur Ware im Kunstmarkt. Ein augenzwinkerndes Kommentar zur Kommerzialisierung von Protestkultur,
Die Ausstellungsräume im ersten Stock des ehemaligen Krankenhauses im Kunstquartier Bethanien sind herausfordernd, denn sie erstrecken sich über zwei Stockwerke und beinhalten charaktervolle Einbauten wie Säulen und eine Bühne. Es ist viel Raum, den es klug zu bespielen gilt, damit sich die einzelnen Arbeiten nicht verlieren. Insofern ist es ein guter Zug gewesen, sich direkt am Eingang den Raum durch Inclinations anzueignen. Doch wie positioniert man die Arbeiten so zueinander, dass ein „Knistern“ und eine gewisse Raumspannung entstehen? Dass sich einerseits Bezüge ergeben, die andererseits aber nicht allzu offensichtlich sind? Als Ratgeber und Reflexionspartner bei der Beantwortung dieser Fragen wurde Alexander Koch aufgrund seiner Galeristen- und Kuratorentätigkeit hinzugezogen. Er gab wertvolle Hinweise dazu, wie die Arbeiten im Raum und zueinander positioniert werden sollten – und wie am besten mit den Interventionen verfahren werden sollte.
Die Interventionen sind Ausstellungsbeiträge, die von den Kurator*innen ausgewählt wurden, aber keine künstlerischen Arbeiten sind, sondern Fundstücke aus der Materialsammlung, die das Projekt während seiner mehrjährigen Recherche anlegt hat. In Form von Fotos, Videos und Reproduktionen von historischen Zeichnungen werden (Protest)Gesten in der Alltags- wie Populärkultur gezeigt und das Thema Geste auf diese Weise zugleich geerdet und ausgeweitet. Mit diesen Referenzen wird es möglich, elementare Fragestellung zum Wirkungsbereich von Gesten und ihren (sub)kulturellen Aneignungen für andere Zwecke aufzuwerfen.
Eine Projektion zeigt den Film Pope Leo XIII in his Chair (1898). Der Papst sitzt in einem weißen Gewand vor Soldaten der Schweizer Garde mit statischen Mienen auf einem Stuhl, hat seinen rechten Arm angewinkelt und die Hand zum Grüßen angehoben, um sie dann an seine Stirn zu führen. Währenddessen beugt sich der Mann zu seiner Linken zu ihm herunter und vollführt eine Geste der Ehrerbietung. Der Papst, obwohl er eher schmächtig ist, strahlt Macht aus, das Heben seines Armes ist eine distanzierte, aber demonstrative Geste. Sie ruft die vielen ikonischen Bilder von Gesten in der Politik ins Gedächtnis, wie Willy Brandts Kniefall, der Kuss zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew sowie die vielen demonstrativen Händeschütteleien wie sie Politiker*innen bei ihren Besuchen zu inszenieren pflegen. Die Kunsthistorikerin Constanze von Marlin schreibt über traditionelle Denkmäler, dass ihnen auf der Grundlage eines kollektiv verstandenen Repertoires an Gesten und Symbolen die jahrhundertealte Funktion der Vermittlung von Politik zukommt.6 Sieht man diesen kurzen Filmausschnitt, wird sofort deutlich, was damit gemeint ist, auch wenn es sich genau genommen um ein bewegtes Bild handelt.
Der historische Bezug ist grundlegend für eine weitere Intervention: eine Zeichnung, die sich auf die religiöse Praxis des Betens bezieht. Es handelt sich um Anleitungen für muslimische und hinduistische Gebetsbewegungen (Rites and Festivals of Muslims and the main Hindu Castes) (ca. 1774), die weniger auf ein Außen als nach Innen gerichtet sind. Sie haben wenig gemein mit der erhabenen Geste des Papstes, sondern sind praktische Anleitungen für tägliche Zwiegespräche und Zuwendungen an Gott. Eine zusätzliche Bedeutungsebene bekommt diese Zeichnung, wenn man den Namen des Zeichners liest: Oberst Jean-Baptiste-Joseph Gentil (1726–1799), er gehörte zu den französischen Kolonisatoren in Indien. Kann man aus den Zeichnungen einen kolonialistischen Blick herauslesen oder heraussehen? Wie beeinflusst diese Information die Bedeutung des historischen Dokuments? Grundsätzlich gefragt: Was für Gesten sind im Umgang mit dem kolonialistischen Erbe angebracht?
Ergänzt werden diese dokumentarischen und künstlerischen Referenzen an historischen Gesten durch aktuelle, populärkulturelle Darstellungen, die in Form von Filmen und zwei ungerahmten Fotos präsentiert sind. Ich zitiere aus dem Ausstellungstext, weil in diesem die Hintergründe erläutert werden: „Beyoncé, 2016 mitwirkende Künstlerin bei der Halbzeitshow des US-amerikanischen Medienereignis „Super Bowl“, bespielte die ihr gebotene Bühne gemeinsam mit Tänzerinnen in Kostümen, die auf die Black Panther-Bewegung der 1970er Jahre verwiesen. Beyoncé ordnet sich mit der Performance ihres Songs Formation in die Tradition politischer Gesten bei sportlichen Großveranstaltungen ein, aus der nicht zuletzt der ikonische „Black Power“-Gruß der beiden Athleten Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen 1968 herausragt, der in der Ausstellung auf einem s/w-Foto zu sehen ist. Smiths und Carlos’ mutiges Bekenntnis findet 2016 sein Echo in der Weigerung Colin Kaepernicks, die Nationalhymne stehend am Spielfeld abzuwarten. Mit seinem „taking a knee“ kreierte er ein seither weithin diskutiertes Zeichen für die „Black Lives Matter“-Bewegung.
Des Weiteren wird auf die Ambivalenz dieser medialen Inszenierungen verwiesen, denn die Bühne eines sportlichen oder musikalischen Mega-Ereignisses wie des Super-Bowles oder der Olympischen Spiele generiert eine hohe Aufmerksamkeit, die im Falle der gezeigten Sportler*innen für eine politische Geste genutzt wird, wodurch diese das Feld des Sports um das der Politik erweitern, während bei einem Popstar wie Beyoncé eine politische Geste zugleich auch eine kühl kalkulierte Marketingstrategie sein kann. Hier besteht eine Grauzone, die ähnlich kontrovers diskutiert werden kann wie der Werbeclip, der sich, um den Umsatz zu steigern, subkultureller oder widerständiger Praxen bedient, um dem beworbenen Produkt ein Hauch von Abenteuer und Anarchie zu verleihen.
Die Verschiebungen, von denen hier die Rede ist, werden auch durch die Arbeit Demo Kits Deluxe von Nasan Tur thematisiert. Während die Demo Kits als Werkzeuge angelegt sind, die „individuelle Teilhabe“ ermöglichen sollen, sind die „Deluxe“-Versionen eher Kunstwerke (und damit zugleich Waren): „Sie bestehen aus exotischem Holz, handpoliertem Edelmetall, feinster Seide und glänzenden Spraydosen.“ Was passiert mit Gegenständen durch die Veränderung ihres Kontextes? Haben sie noch eine praktische Funktion, oder werden sie zu Repräsentationsobjekten bzw. zu hochpreisigen Kunstwerken? „Jede noch so banale Geste hat in unserer heutigen Zeit das Potenzial, falsch interpretiert, korrumpiert, verurteilt zu werden“, heißt es folgerichtig im Text zur Arbeit ten thousand times and one hundred more. Ergänzt werden müsste der Satz um: Jede Geste hat das Potential, nur in der Andeutung zu verbleiben, statt in die Handlung zu gehen. Die (Bedeutungs-)Offenheit und Ungerichtetheit der Geste sind ihr Potential und gleichzeitig ihr potentielles Manko.
Eine Ausstellung, die primär eine Kunstausstellung ist, aber gleichzeitig ein Thema verhandeln und zusätzlich Einblick in einen Prozess geben will, führt zu einer Gemengelage unterschiedlicher Intentionen. Das fällt zunächst nicht auf, weil es der Ausstellung gelingt, Bezüge zwischen den einzelnen zum Teil recht unterschiedlichen Arbeiten herzustellen bzw. die vorhandenen Bezüge so in Szene zu setzen, dass sich zwischen den einzelnen Arbeiten Verbindungen ziehen lassen – sei es weil es thematische Überschneidungen gibt, es sich um dieselben Künstler*innen handelt oder sich das Format ähnelt. Es entsteht jedoch ein Eindruck von Unentschlossenheit und Gleichzeitigkeit (was, wie die Arbeit von Konrad Strutz zeigt, durchaus seinen eigenen Wert haben kann). Für mich ist ein Knackpunkt der Umgang mit den als Interventionen bezeichneten Ausstellungsstücken, denn der Begriff Intervention bezieht sich ursprünglich auf kurzzeitige Eingriffe, wenn zum Beispiel im Falle von Völkerrechtsverletzungen Staaten in die Angelegenheiten anderen Staaten eingreifen7. Bei den Recherchematerialien handelt es sich hingegen um Objekte, die von den Kurator*innen (also den Projektteilnehmer*innen) eingebracht wurden und die wichtige Referenzobjekte im Projektverlauf waren, also nicht von außen kommen, sondern Teil der gemeinsamen Recherche waren. Ihren „anderen“ Status dadurch zu markieren zu versuchen, dass man sie anders platziert (direkt auf den Boden oder mit einem weißen Rand versehen), ist eine halbherzige Geste. Stattdessen hätte es der Ausstellung gut gestanden, wenn sie die in ihr enthaltende Interdisziplinarität und die Heterogenität der Ausdrucksweisen, die sich am Poster, den Interventionen und den dokumentarischen Ansätzen zeigen, noch expliziter ausgestellt hätte. Wenn also der Grenzraum8 unterschiedlicher Ansätze, in dem sich die Ausstellung durch ihren spezifischen Hintergrund als Gruppenprojekt und die diversen Hintergründe der Beteiligten an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft bewegt, im Fokus gestanden hätte. Konkret hätte dies bedeuten können, auf die externen künstlerischen Beiträge zu verzichten und sich vor allem den fließenden Übergängen bzw. Schwellen zu widmen, die bei der Transformation eines wissenschaftlichen Papers oder dokumentarischen Recherchematerial in Kunstwerke entstehen und die sich zwischen Kunstwerken und Interventionen auftun. Durch welche Bearbeitung wird dokumentarisches Material zu einem Kunstwerk? Wie lassen sich kuratorische Gesten von künstlerisch-installativen Eingriffen abgrenzen oder löst man alles in einer gemeinsamen Autor*innenschaft auf? Die daran anknüpfende Frage der Selbstdefinition der Urheber*innen als Künstler*innen, Kurator*innen oder Wissenschaftler*innen hätte mich interessiert. Wird hier von fließenden Übergängen ausgegangen oder von harten disziplinären Grenzen, die sich in diesem interdisziplinären Projekt umso deutlicher gezeigt haben? Statt den Versuch einen unscharfen Abgrenzung der einzelnen Ausstellungsbeiträge zu unternehmen, hätte man damit den Forschungscharakter des Projektes unterstreichen können, womit die Suchbewegungen, Aushandlungsprozesse und Schwellenerkundigungen automatisch Teil der Ausstellung geworden werden. Denn das Zaudern, das sich an diesen Schwellen ereignet, hat laut Joseph Vogl durchaus Potential: „[Es] unterbricht […] Handlungsketten und wirkt als Zäsur, es potentialisiert die Aktion, führt in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und Nein, exponiert eine unauflösbare problematische Struktur und eröffnet eine Zwischen-Zeit, in der sich die Kontingenz des Geschehens artikuliert.“9
1 Interview mit Philipp Felsch, in: microform. Der Podcast des Graduiertenkollegs Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, abrufbar unter: www.kleine-formen.de/interview-mit-philipp-felsch/, Berlin 2018.
2 Catherine Millet, Eifersucht (München: Hanser, 2010), 7.
3 Vgl. www.wortbedeutung.info/Geste/ oder www.duden.de/rechtschreibung/Geste. Accessed April 9, 2019.
4 Siehe Mitschnitt der Generalprobe der Lecture Performance G20 im Kunstverein Leipzig am 20.10.2018, Timecode 4:46.
5 Siehe Ausstellungsdokumentation auf dieser Website, Beschreibungstext G20.
6 Vgl. Constanze von Marlin, „Kunst im öffentlichen Raum zwischen Kunstgattung und politischer Aktion“, in: Bärenzwinger Berlin, Spuren – Architekturen – Projektionen, ed. Fachbereich Kunst und Kultur (Bielefeld: Kerber, 2019), 124.
7 Vgl. Anna-Lena Wenzel et. al., Glossar der Interventionen (Berlin: Merve, 2012), 90f.
8 Für eine ausführliche Beschreibung des Konzepts „Grenzraum“ siehe: Anna-Lena Wenzel, Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst (Bielefeld: transcipt, 2011), 241–261.
9 Joseph Vogl, Über das Zaudern ( Zürich/ Berlin: Diaphanes, 2007), 108f .
Literatur
Interview mit Philipp Felsch, in: microform. Der Podcast des Graduiertenkollegs Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen, abrufbar unter: www.kleine-formen.de/interview-mit-philipp-felsch/, Berlin 2018.
Marlin, Constanze von. „Kunst im öffentlichen Raum zwischen Kunstgattung und politischer Aktion“. In Bärenzwinger Berlin, Spuren – Architekturen – Projektionen, edited by Fachbereich Kunst und Kultur, 124-25. Bielefeld: Kerber 2019.
Millet, Catherine. Eifersucht. München: Hanser, 2010.
Vogl, Joseph. Über das Zaudern. Zürich/ Berlin: Diaphanes, 2007.
Wenzel, Anna-Lena. Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Bielefeld: transcipt, 2011.
Wenzel, Anna-Lena et. al. Glossar der Interventionen. Berlin: Merve, 2012.