Gesture
Erfahrung
Im/Perceptible Gesture
Workshop I / Braunschweig
In der gemeinsamen Arbeitswoche ergaben sich erste Kollaborationen. Wir diskutierten und erprobten Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit. Dabei zeichneten sich 3 Schwerpunkte ab, um das Verhältnis von Geste, ihrer Wahrnehmbarkeit und Repräsentation zu untersuchen. Es wurde deutlich, dass
1. für uns die Beschreibung und damit Versprachlichung von Gesten ein besonders relevantes Feld ist.
2. wir uns auf die unterschiedlichen Formen der techno-medialen Repräsentation, insbesondere in Video und Erkennungsprozessen, konzentrieren.
3. mit Blick auf die Analyse von Gesten das Moment der Erfahrung von Gesten wichtig wurde. Gesten haben demnach eine doppelte Existenz: sie sind an so etwas wie einen „inneren“ Raum der Erfahrung gebunden und an einen (vom Gestikulierenden aus betrachtet) „äußeren“ Raum der Wahrnehmung und der Repräsentation.
Zwei Tage lang arbeiteten wir gemeinsam mit Elke Utermöhlen und Martin Slawig von blackholefactory am Thema „un/perceivable gesture“. Anknüpfend an theateranthropologische Ansätze von Eugenio Barba fragten wir nach dem Übergang von Alltagsgesten zu ihren symbolischen Formen – wie sie in unterschiedlichen Theaterformen tradiert werden.
Wir unterzogen das Verhältnis von formalisierter Geste und ihrer individuellen Ausführung einer kritischen Betrachtung. Die theoretische Auseinandersetzung korrespondierte mit praktischen Experimenten: Laurie Young zerlegte mit ihrer künstlerischen Methode des „Giffing“ typische Gesten der Mediennutzung in granulare Bewegungsschritte. In der Gruppe führten wir diese als verteilte Folge aus und beschrieben unsere individuelle Erfahrung mit der jeweiligen Bewegungssequenz.
In der Arbeit mit Kinects Tiefenkamera verschiebt sich die Frage nach der Formalisierung von Gesten, insofern sie zwar als zeitliche Abfolge von Punktwolken repräsentiert sind, aber in Form von Matrizenfolgen auch für mathematische Operationen zugänglich werden. Im Sinne der un/wahrnehmbaren Gesten haben wir begonnen, Bewegungsabläufe in Bezug zu setzen mit den spezifischen räumlichen Daten und Ausformungen, welche sie mittels digitaler Messung und Signalverarbeitung erzeugen. Diese Repräsentationen ermöglichen eine Analyse von räumlichen und zeitlichen Details sowie die Gegenüberberstellung mit anderen Darstellungsformen. Der Fokus auf Übersetzungs- und Operationsketten deutet sich auch für ein weiteres Tool an, die Leap Motion.
Als Praxis und Thema werden uns Handgesten und Körpergesten in ihrem Verhältnis zu ihren technologischen Transformationen weiter beschäftigen. Erste theoretische Bezugnahmen haben wir zu Leroi-Gourhans Modell der Koevolution von Technik(en) und symbolischen Formen diskutiert sowie zu Tomassellos Kommunikationsmodell.
Die Frage von Kommunikation, Steuerung und Geste stellte sich uns neuerlich: Wie werden Gesten versprachlicht? Wie werden Beschreibungen von Gesten und Handlungsanweisungen umgesetzt? Welche Rolle spielen Rhythmen, Betonungen und Atmosphären? Diese Auseinandersetzung spielt ins Thema der politischen Geste herein; es geht um den Umschlagpunkt von individuellen zu intersubjektiven Konstellationen, die das Verhältnis von Erfahrung, Ausdruck und Kommunikation adressieren.
Bewegungsrhythmen im öffentlichen Raum, minimale Gesten der Interaktion und hochsymbolische Gesten in unterschiedlichen Protestbewegungen sind für uns wichtige Phänomene in diesem Thema. Timo Herbsts filmisches Material und eine experimentelle Präsentation im ICG-Dome des Instituts für Computer Graphik der TU Braunschweig fragen, wie sich Öffentlichkeiten auch und gerade durch (minimale) gestische Interaktion herstellen und wie diese beobachtbar und zu repräsentieren sind.
Das Verhältnis von Bewegung, Medien und Öffentlichkeit muss einerseits mit differenzierten Begriffen des Politischen befragt werden und andererseits in einer medienhistorischen Perspektive kontextualisiert werden. Aus der Perspektive des Politischen geht es immer um Sicht- und Sagbares, aber auch um Fremdzuweisungen und Selbstausschlüsse (vgl. u.a. Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. 2016); in der historischen Kontextualisierung wird deutlich, welche Repräsentationsformen und diskursiven Räume wie stabilisiert wurden. Darüber hinaus lässt sich differenziert diskutieren, wie sich phantasmagorische Überschüsse und symbolisches Kapital mit der Einführung und Stabilisierung von Technologien verändern.
Zum Abschluss präsentierten wir unsere Ansätze, Fallstudien und Diskussionen in Form eines „Open Studio“ der HBK-Öffentlichkeit. Es kristallisierten sich Verdichtungen von Interessen heraus und die zu bearbeitenden Fallstudien und Konstellationen.