Timo Herbst und Irina Kaldrack
Teilen und Lernen am Beispiel der Lecture Performance G20
Dies ist eine leicht gekürzte und überarbeitete Version des Textes, der für die Online-Publikation wissenderkuenste.de entwickelt wurde. https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-9/kaldrack-herbst/, letzter Zugriff am 19.6.2021.
Am Beispiel unserer Arbeit an der Ausstellung und Lecture Performance G20 reflektieren wir, was Teilen und Lernen im interdisziplinären Zusammenarbeiten zwischen einem Künstler und einer Wissenschaftlerin bedeuten kann: Was haben wir gemeinsam gelernt, was haben wir als Einzelne gelernt? Welche Arten des Teilens haben funktioniert, wo bestehen Brücken zwischen dem jeweilig Eigenem (was immer das ist) und wo bleiben Lücken?
Wir stellen zunächst den Prozess in einem gemeinsamen Textteil dar und teilen die Reflektion in je eigene Textteile auf. Zum Abschluss suchen wir wieder eine gemeinsame Sprech- bzw. Schreibposition. Dabei reden wir notwendigerweise aus der Position von Produzent*innen und nicht als Rezipient*innen.
Kontext – The Entanglement between Gesture, Media, and Politics
Wir – Timo Herbst als bildender Künstler, der als Soloselbständiger arbeitet, und Irina Kaldrack als Medienwissenschaftlerin, die die Professur Wissenskulturen im digitalen Zeitalter an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig verwaltet – haben im Rahmen des Drittmittelprojekts The Entanglement between Gesture, Media, and Politics (EGMP) zusammengearbeitet. Ausgangspunkt des Projekts war die Beobachtung, dass Gesten neuerlich Relevanz bekommen und zwar insofern, dass das Zeigen einen neuen Stellenwert erhält, sowohl in global zirkulierenden Bewegtbild-Medien als auch in unseren (westlichen) Alltagswelten, die mehr und mehr von Medientechnologien, Sensoren und Prozessoren durchdrungen sind.
Für unsere künstlerisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit hatten wir als 8-köpfiges Gesamt-Team überlegt, dass wir die Arbeit und möglicherweise auch die entstehenden Werke als performativ-installative ‚Transformation Chains‘ organisieren. In unserer Vorstellung sollten diese so funktionieren, dass wir zusammen an Fallstudien/Werke/Interessenspunkten arbeiten und jede*r von seiner Perspektive und mit seinen Methoden an das gesammelte und hergestellte Material herangeht und hinzufügt, verändert etc. Dadurch – so die Idee – wäre es möglich, dass die einzelnen Perspektiven und Herangehensweisen immer auch als eigene, auch disziplinär verortete, Zugänge erkennbar bleiben und wir einen Erfahrungsraum durch ästhetische Spuren und Bezugnahmen schaffen können, in dem neues oder anderes Wissen von Geste im Verhältnis zu Medien und dem Politischen entstehen kann.
Arbeits- und Entstehungsprozess der Lecture Performance G20
Schon während der relativ langen Antragsphase hatte Timo Herbst sein Interesse auf die Frage von Protestgesten gerichtet, und dabei auch deren mediale Zirkulationen in den Blick bzw. in den Kamerafokus genommen. Ausgangspunkt waren die Proteste im Jahr 2015 am Keleti Bahnhof in Budapest, die für die offiziellen Grenzöffnung durch Deutschland und Österreich am 5. September einen relevanten Brennpunkt der Grenzproteste markierte. Timo Herbst filmte zusammen mit Marcus Nebe die Entwicklung und Kommunikation zwischen Medienberichterstatter*innen, Unterstützer*innen und Protestler*innen mit dem Fokus, welche Medienbilder wie über die Situation gemacht wurden und entwickelte daraus eine 5-kanalige Videoinstallation. 2016 erweiterte er die Arbeit mit der formal identischen Methode des Filmens auf dem Taksim Platz beim gescheiterten Putschversuch in Istanbul.
Im ersten Workshop (April 2017 an der HBK Braunschweig) präsentierten alle Teilnehmer*innen von EGMP in ihrem je eigenen Format den eigenen Stand und Material für gemeinsames Arbeiten. Als Einsatzpunkt für das gesamte Projekt formulierte Irina Kaldrack hier ihr genuines Interesse am künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeiten zur Frage des Gestischen: Sie wollte ein Gestenmodell formulieren, welches geeignet sei, das Gestische oder die Geste in der Verkreuzung mit Medien und dem Politischen überhaupt adäquat zu fassen. Als Beitrag für das gemeinsame Arbeiten bzw. eine oder mehrerer ‚Transformation Chains‘ ging es ihr darum, dieses Gestenmodell im Entwickeln oder im Erklären gleichsam performativ zu erproben. Insofern das, was Geste ist, auf theoretische Weise nicht gefasst werden kann, sondern immer mit dem Prozess des Tuns und mit den eigenen Erfahrungen zu tun hat, muss auch ein Erfassen von Geste im Modell immer mit dem Tun und mit Erfahrung verbunden sein.
Timo Herbst und Dina Boswank entwarfen schon in dieser Phase ein Projekt für eine ‚Transformation Chain‘: Ausgangsmaterial, wie z.B. Timos Filme sollten mit Text beschrieben und als eingesprochene Bewegungsanweisungen genutzt werden. Die entstehenden Bewegungen könnten dann durch Datenanalyse (neue) Bilder, Sound oder Bots in Social Media steuern.
Unsere zweite gemeinsame Arbeitsphase fand Ende September 2017 im Rahmen des internationalen Kunst- und Designfestivals Schmiede Hallein in Hallein, Österreich, statt. Dina Boswank, Timo Herbst und Irina Kaldrack arbeiteten dort an den unterschiedlichen Übersetzungen, um eine ‚Transformation Chain‘ zu politischen Gesten/Protestgesten zu realisieren. Timo Herbst brachte Filmaufnahmen vom G20-Gipfel in Hamburg mit, die er – zusammen mit Marcus Nebe – dort in Hinblick auf die Fragen von Protestgesten und ihren medialen Repräsentationen gemacht hatte. Dina Boswank verschriftlichte eine choreografische Zeichnung von Timo Herbst, in der dieser eine Bewegungssequenz aus unterschiedlichen Kampfhandlungen komponiert hatte.
Es entstanden Beschreibungstexte, die auf unterschiedliche Weise die verbildlichte Bewegungsfolge fassten. Boswank ließ die Beschreibungstexte von Projektteilnehmer*innen einsprechen, um die Körperlichkeit des Sprechens im Ton erlebbar zu machen.
Timo Herbst arbeitete unterdessen an einer Gestensteuerung mithilfe einer Kinect-Kamera. Diese ermöglichte, dass durch bestimmte Posen unterschiedliche Sounds aus dem Demonstrationsgeschehen aus Athen, Hamburg, Budapest und Istanbul aktiviert wurden. Zu dritt identifizierten wir sechs Posen, die uns spezifisch für den Protest in Hamburg erschienen (aufbauend auf dem Filmmaterial von Timo Herbst und seinen Bild-Recherchen zu historischen Protestbewegungen). Irina Kaldrack arbeitete an einem Text, der sich um die Frage drehte, was politische Gesten sind, bzw. wie Gesten politisch werden.
Diese Elemente – filmische Darstellungen des G20-Protestes, Beschreibungen von Gesten in ihrer stimmlichen Qualität, Herbsts Zeichnung, die interaktiven Sounds, welche durch die Gesten bzw. Posen ausgelöst wurden und der von Kaldrack vorgetragene Text – haben wir nach unserer Arbeitsphase in Hallein in einem intensiven, aber auch sehr kurzen Prozess zu einer Präsentation konstelliert. Als eine erste, sehr experimentelle Fassung einer Installation und Lecture Performance präsentierten wir unseren Zwischenstand auf der internationalen Tagung Affective Tranformations: Politics. Algorithms. Media.1
Deutlich wurde uns (Boswank, Herbst und Kaldrack) hier, dass wir mitnichten eine Installation entwickelt haben, sondern eine Bühnensituation. Im gemeinsamen Reden und Reflektieren entschieden wir, dass die verschiedenen Elemente sehr viel präziser zueinander in Relation treten müssten und installative Momente und performative Momente abwechseln oder dramaturgisch gesetzt werden müssten. In diesem Prozess entschieden wir auch, keine interaktiven Sounds zu nutzen und entsprechend die gewählten Steuerungsposen nicht mehr in den Mittelpunkt der Performance zu stellen. Die Überlagerungen von gefilmten Gesten mit dargestellten Gesten, die gleichzeitig als Steuerungsgesten für Sounds dienen, die wiederum auf die filmische Darstellung verwiesen, schien uns zu überladen und zu undurchdacht. Darüber hinaus stellte es sehr hohe Ansprüche an Irina Kaldrack als Laien-Darstellerin, einerseits Text und das eigene gestische Tun zu konstellieren, und andererseits die Gesten der Protestierenden als Stellvertreterin zu verlebendigen. Dazu kam, dass sie selbst nicht an den Demonstrationen und Protesten teilgenommen hatte und wir uns im gesamten Projekt häufig die Frage gestellt hatten, wer aus welcher Position welche Bewegungen in welchen Macht- und Blickkonstellationen wie ausführt. In dieser Weise wurde für den weiteren Prozess die Sprech- und Bewegungsposition von Irina Kaldrack zu einem zentralen Arbeits- und Auseinandersetzungsfeld für die zweite Arbeitsphase.
Wir entschieden uns, die Arbeit weiterzuentwickeln und im Kunstverein Leipzig ein weiteres Mal zu präsentieren. Die zweite etwa zehn-monatige Arbeitsphase erstreckte sich über zwei Workshops der Gesamtgruppe in Berlin und regelmäßige Proben von Boswank, Herbst und Kaldrack. Es ging darum, unsere jeweiligen ästhetischen/aisthetischen Einsätze und die Elemente der performativen Installation präziser zueinander zu konstellieren:
Timo Herbst hatte schon in Hallein begonnen, mit Troikatronix Isadora zu arbeiten, einer Live-editing-Software.2 Er begann, die Videobilder teilweise zu verfremden und mit Effekten zu versehen, welche von körperlichen Bewegungen in den Bildern abgeleitet waren. Zudem ermöglichte es die Live-Steuerung Herbst direkt auf Kaldracks Performance zu reagieren (v.a. mit Bildwechseln, Überblendungen etc.). Irina Kaldrack arbeitete an ihrem Text weiter. Es ging uns darum, die Bezüge zwischen Text und Bildmaterial zu präzisieren, und die theoretische Argumentation in Hinblick auf „das Politische“ von Protestgesten scharf zu stellen. Wir fokussierten uns als Gruppe auf die Frage, ob und wie die theoretischen Erkenntnisse sich in den Protestsituationen wiederfänden und was daraus für politischen Protest und seine Gesten ablesbar wäre. Dina Boswank entwickelte ein Audiostück, welches die eingesprochenen Beschreibungen der Kampfhandlung mit Aussagen zur Szene einer Plünderung im Hamburg verwob.
Um die einzelnen Elemente zu konstellieren, entschieden wir uns, den Raum als ein Labor aufzufassen, in dem wir unsere jeweiligen Auseinandersetzungen führen. Dabei war recht schnell klar, dass es um einen Raum gehen sollte, in dem Gesten in verschiedenen medialen Repräsentationen zirkulieren. Die Installation war stark durch wandfüllende, teils überlebensgroße Videoprojektionen geprägt, die den Raum für die Lecture Performance bildeten. Gleichzeitig war der sprechende und bewegte Körper von Kaldrack im Grunde eine Art Störung oder Intervention in den Projektionsraum.
Wir haben verschiedene Kolleg*innen eingeladen, uns Feedback zu geben und dramaturgisch zu beraten. Laurie Young (Tänzerin und Choreografin) als Teilnehmerin des Gesamtprojekts teilte mit uns ihre Erfahrung zum Verhältnis von Videoprojektion und bewegendem Körper und lenkte die Aufmerksamkeit darauf, wen Kaldrack als Performerin wie adressiert und wohin sie ihre Aufmerksamkeit richtet. Die dramaturgische Mitarbeit von Silas Mücke (Bildender Künstler) fokussierte sich unter anderem auf die Raumwege von Kaldrack und darauf, Text und Bewegungen teilweise zu entkoppeln. Martina Leeker (Medienwissenschaftlerin und Performerin, die auch die Potsdamer Version der Lecture Performance gesehen hatte) half uns, den theoretischen Fluchtpunkt unserer Auseinandersetzung zu formulieren: die Frage nach der Haltung und insbesondere der politischen Handlungsfähigkeit, die sich mit der politischen Geste entzünden könnte.
Im Kunstverein Leipzig erarbeiteten Herbst, Mücke und Nebe schließlich eine Rauminszenierung, die zwei Tage zu sehen war. Darin fand am Abend des 20.10.2018 die Lecture Performance statt. Eine 4-kanalige Videoarbeit von Timo Herbst und Marcus Nebe zeigte die Entwicklung des G20-Gipfels auf der Straße Hamburgs chronologisch rückwärts von der Eskalation auf der Schanze bis zu den ersten Interventionen der Polizist*innen und Protestierenden im Stadtraum Hamburgs schon Tage vor dem offiziellem G20-Gipfel. Der Film lief und vor und nach der Lecture Performance im Loop und zielte darauf eine immersive visuelle Erfahrung der Geschehnisse in Hamburg zu ermöglichen, welche in der Lecture Performance intellektuell, visuell und körperlich weiterverarbeitet wurden.
Eine Installation mit Hamburger Gittern (Polizeigittern) von Silas Mücke teilte den Raum und lenkte die Wege der Besucher*innen.
Die eine Hälfte des Raums wurde durch eine Montage überlebensgroßer Pressebilder an den Schaufenstern (Dina Boswank) und ein Videoobjekt (Timo Herbst) geprägt.
Die Lecture Performance fand in der anderen Hälfte des Raums statt, welche durch die Videoprojektionen definiert wurde und von den Hamburger Gittern begrenzt wurde. In diesem Raum bewegte sich Irina Kaldrack und sprach bzw. las den Text, wobei sie sich teils explizit auf die Videoprojektionen bezog und teils das Publikum adressierte. Ein Mal verlässt Kaldrack die Spielfläche und die Audioarbeit von Boswank ertönt zu Videobildern von Herbst/Nebe.
Reflexion
Die nun folgenden Reflexionen möchten wir als je eigene Positionen stehen lassen. Wir reflektieren hier aus unserer je persönlichen Perspektive – die disziplinär und biografisch geprägt ist –, unseren Arbeitsprozess und fluchten dabei auf das Teilen und Lernen.
Timo Herbst: Für mich ist eine Beobachtung, dass Gesten/Bewegungen nicht immer eine klare, begrenzte, einzelne Bedeutung schaffen, sondern gleichzeitig mehrere mögliche Bedeutungen herstellen können. Gerade in politisch aufgeheizten Situationen wird deswegen um die Bedeutung von Gesten am stärksten gestritten und die Gesten laufen Gefahr in festgeschriebene Positionen von Lagerbildung zu erstarren. Diese Dynamik interessiert mich immer wieder und weil es im Vorfeld bereits klar war, dass in Hamburg eine so geprägte Situation entstehen würde, fuhr ich 2017 zum G20-Gipfel. Wie kommunizieren? Wie mit Polarisierung und Lagerbildung umgehen? Gestern dort und heute woanders. Alle versuchen etwas zu tun, ob mit Information oder körperlichen Aufbegehren gegen eine Unterdrückung von etablierten Politiken. Die Arbeit an G20 war für mich wie ein Abtasten der Bedingungen, die in solchen Situationen herrschen. Ein notwendiger Versuch, erstmal auf unterschiedlichen Ebenen (Inhalt des Protests, Kommunikationsform des Protests, Verhältnis von physischer Handlung und gedanklicher Reflexion) zu begreifen und zu spüren, in welcher Dynamik man sich befindet (z.B. in dem Moment auf der Straße in Hamburg). Deshalb schlug ich das Material in der Gruppe vor und versuchte mich vom Bild und den Erfahrungen, die ich in Hamburg (und anderen Orten) machte, leiten zu lassen, ohne vorauszusetzen was ich als Resultat produzieren würde.
Für den Umgang mit dem Material vom G20-Gipfel erschien es mir notwendig, eine Sprache der Darstellung zu nutzen, die diese Mehrdeutigkeit oder – hier – Un-Beweglichkeit der Bedeutungen von Gesten beschreibbar, erlebbar und praktizierbar macht. Die Tätigkeiten Beschreiben, Erleben, Praktizieren sind dabei für mich elementar, weil sie ebenfalls in den Protestgesten in Hamburg anwesend sind. Wir arbeiteten also mit den gleichen Mitteln (Tätigkeiten), die auch in der Situation Hamburgs anwesend waren. Für mich liegt hier das Wissen der Künste, die in dieser Lecture Performance mit dem Wissen der (Geistes-)Wissenschaft (explizit mit Irina Kaldrack) zusammenspielte.
Gleichzeitig traten dadurch die inhärenten Ansprüche und Regeln unserer jeweiligen Disziplinen zutage und zeigten deren Möglichkeiten, aber auch Begrenztheiten. Dies ist für mich eine weitere, relevante Dimension der Arbeit, die man meines Erachtens auch spürt, wenn man das Video der Lecture Performance sieht. Es stellte sich z.B. für mich immer die Frage nach dem Verhältnis zwischen sinnlicher Erfahrung (als Betracher*in und Performende) und intellektuellem Erkenntnisinteresse der Leitfrage. Wo generiert die Verbindung von welcher Körperhaltung und projiziertem Bild etwas, was Text oder Bild einzeln so nicht vermögen? Welche Resonanz und Dissonanz bestehen zwischen den Elementen Sprache, Bild, Körper und was macht das mit der Perspektive und Aufmerksamkeit auf die verhandelten Fragen?
Irina Kaldrack: Für mich ist an unserer gemeinsamen Arbeit G20 im Rückblick die selbstreferenzielle Struktur das Entscheidende; damit meine ich, dass wir sehr viel von unserer theoretisch-inhaltlichen Auseinandersetzung, also dem Entwicklungsprozess der Lecture Performance in ihre Präsentationsform eingefaltet haben. Insbesondere betrifft dies das Verhältnis von Zirkulation, Störung und Kippmomenten, welches für unsere Diskussion um das Verhältnis von Protestgesten, das Politische und Medien zentral waren.
Für mich war das zweite entscheidende Verhältnis das zwischen Abstraktion und Konkretion oder Konkretheit, mit dem wir in der Performance-Installation umgegangen sind: Wir sind ja sehr stark vom bildlichen Material und von Timos Erfahrungen ausgegangen. Wir haben mit unseren jeweiligen Hintergründen und Interessen ausgelotet, was wir nun von diesen Gesten und ihren medialen Zurichtungen (die Selbstpräsentationen der Gestikulierenden, die Wahl der Szenen und Ausschnitte) über das Politisch-Werden von Gesten sagen können und wollen. In meiner Argumentation habe ich auf Theorien von Oliver Marchart und Hannah Arendt zurückgegriffen. Wir haben viel daran gearbeitet, ob und wie die abstrakten Begriffe und Theorien mit den konkreten Bildern, aber auch mit meinen körperlichen Bewegungen im Raum und beim Reden zusammengehen.
Eine zentrale theoretische Erkenntnis war, dass Protestgesten eben zwischen Zeichen und Handlung oszillieren und in den medialen Zirkulationen erstens Verbreitung finden und zweitens im Grunde diskursiv gedeutet werden und stabilisiert werden. Das Entscheidende an einer politischen Geste wäre (anknüpfend an Marcharts Lektüre von Arendts Handlungsbegriff), dass diese die etablierten (Protest)Ordnungen öffnet, kurz instabilisiert. Es gab wenige solcher Momente in den Protesten in Hamburg. Es kommt mir so vor, als hat unsere selbstreferenzielle Struktur das Ziel gehabt, einen solchen Moment des Instabil-Werdens von (Macht)Ordnungen zumindest aufscheinen zu lassen oder die Möglichkeit zu schaffen, dass dieser aufscheinen kann.
TH: Mich verunsichert diese Arbeit als Prozess und Resultat bis heute, weil ich meine Kriterien für ein Kunstwerk (das ich üblicherweise von mir freigebe) in diesem Projekt verschoben habe. Meiner Meinung nach ist unsere Kollaboration durch die Bereitschaft geprägt gewesen, dass wir beide unsere jeweils gewohnte Logik nicht durchsetzen wollten, auch wenn diese anwesend waren und sich aneinander gerieben haben. Damit ist etwas gemeinsames entstanden, das sich vielleicht auch nicht so reibungslos in die jeweilige Disziplin einfügt.
IK: Ich bin nicht sicher, denke aber, dass wir das Format Lecture Performance, als etwas das performativ einen Vortrag aufs Spiel setzt, interessant er- und gefunden haben. Ich kann auf jeden Fall für mich sagen, dass die Störungen meine Vortrags-Ordnungen durchaus instabilisiert haben. Ich habe eine andere Form von Text geschrieben, ich habe auf andere Weise gesprochen.
TH: Für mich ist die Arbeit aber auch deshalb nicht nur eine Reflexion über die politische Dimension der Gesten innerhalb der Ausschreitungen in Hamburg, sondern ebenfalls eine Reflexion über die Logik der unterschiedlichen Mittel unserer Disziplinen. Es manifestiert sich viel davon in der Performance und zeigt damit die Erwartungen und Begrenztheit der jeweiligen Disziplinen. Wir haben beispielsweise viel über die Vortagslogik im Akademischen und über die Logik eines Kunstwerks gesprochen, die meines Erachtens unterschiedlich sind und sich in der Lecture Performance auch begegnen. Neben dem Thema der Geste ist das der Grund, warum ich diese Verunsicherung aushalte und die Arbeit für sehenswert erachte. Ich denke, dass diese unterschiedlichen Logiken in der Lecture Performance lesbar werden. Interdisziplinarität, wie z.B. die innerhalb dieser Lecture Performance, verunsichert dann automatisch die Kriterien unserer jeweiligen Disziplin. Dadurch werden dann aber wiederum andere Kriterien, Logiken oder Formen von Wissen möglich, wie z.B. in der Lecture Performance die Verzahnung von physischem, körperlichem Akt (Körper), Abbild (Video) und Reflexion (vorgetragener Text).
Sich darüber klar zu werden, auf welche unterschiedliche Weisen wir über diese Verzahnung angesprochen werden, hängt dementsprechend auch damit zusammen, sich seiner Wahrnehmung von der Verzahnung von Körper, Sprache, Bild bewusst zu werden. Wir sprechen darüber, wie wir die Verzahnungen wahrnehmen. Ich denke für unseren Arbeitsprozess hieß das auch sich so menschlich kennenzulernen und die Sprachen und Wahrnehmungsschlüssel des anderen kennenzulernen, und vor allem eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, mit der man sich verständigen kann.
IK: Für mich hat sich dennoch eine gemeinsame Arbeit hergestellt, die ich als installative Lecture Performance bezeichnen möchte. Das Konzept der Lecture Performance ist spätestens seit den 2010er Jahren ein vielgenutztes und auch -geschmähtes Format. Ich selbst kenne den Begriff einerseits von geisteswissenschaftlichen Konferenzen, wenn (Performance)Künstler*innen ihre Arbeiten vorstellen und dabei einige der Arbeiten „anspielen“. Daneben gibt es (in meiner Wahrnehmung seit den späten 1990er Jahren) Performances, die mit Formaten des wissenschaftlichen Vortrags arbeiten und diesen auch medienreflexiv und auf Inszenierungsweisen befragen. Gleichermaßen hat mit Ted-Talks und Science-Slam (und der Forderung nach Wissenschaftskommunikation) genau diese Selbst-Inszenierung im Vortrag zugenommen. Wir haben allerdings eine andere Form oder Struktur geschaffen. G20 ist keine Videoinstallation, es ist keine Soundinstallation, es ist keine Performance und es ist kein wissenschaftlicher Vortrag.
TH: Für mich besteht immer ein Verhältnis zwischen der physisch realen Beschaffenheit der Welt und der Vorstellung/Reflektion, die wir uns von der Welt machen. Daher möchte ich die physische Beschaffenheit in meinen Arbeitsprozess einer Reflektion integrieren.
IK: Für mich waren im Arbeitsprozess bestimmte Phasen und v.a. bestimmte Entscheidungen und daran anschließende Prozesse entscheidend.
Mein Vorhaben war ja, einen Begriff des Gestischen zu entwickeln, der Geste in ihren Verwicklungen mit Medien und Politiken fassen kann und dieses Verständnis von Geste gleichzeitig irgendwie performativ zu erproben. Das habe ich für die Lecture Performance dann erst mal als Frage gefasst, was politische Geste überhaupt ist. In Hallein, im ersten Entwurf meiner theoretischen Reflexion und aufbauend auf Timos Recherche-Arbeit nach geschichtlichen und in unterschiedlichen Regionen auftretenden Protestgesten, hat sich diese Frage daraufhin zugespitzt, wie Gesten politisch werden und ob die Gesten, die als Protestgesten auftreten, irgendwie dafür prädestiniert sind.
Damit hat sich meine theoretische Reflexion auch auf das Konzept „des Politischen“ verschoben. Das hieß allerdings wiederum, dass die Lücke zwischen den konkreten Gesten im Bildmaterial und den theoretischen und abstrakten Konzepten von Geste und dem Politischen eher größer wurde. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich im Sprechen bestimmte typische Protestgesten oder -haltungen einnehme und damit irgendwie erproben könnte, ob und wie bestimmte Gesten politisch werden (durch so etwas wie Ausrichtung, Adressierung u.ä.).
Für mich war es eine durchaus schmerzhafte Entscheidung, dieses Vorhaben – das wir in der Potsdamer Konferenz erprobt haben – fallen zu lassen. Ich kann zu der Gruppenentscheidung stehen und habe sie auch mitgetragen. Dennoch musste ich damit mein genuines Interesse fallen lassen.
Meines Erachtens sind dadurch auch zwei Verschiebungen passiert: das Verhältnis zwischen Konkretion und Abstraktion war vor allem eines zwischen dem Video und dem Text. Und für mich und in der Gruppe ist die Frage in den Vordergrund gerückt, wie ich bzw. mein Körper überhaupt in diesen Videoraum situiert bin und warum ich eigentlich überhaupt irgendeine Bewegung mache.
TH: Für mich war es total notwendig den Vortrag mit einer Körperlichkeit zu verbinden. Nicht nur dass der Körper die Ebenen der Selbstverortung innerhalb der Situation auf den Betrachter überträgt, sondern auch das Wechselspiel zwischen Handlung und Zeichen; Abbild und Eingriff; Ergriffenheit und Distanz wird durch den realen Körper aktiviert. Der G20-Gipfel auf der Straße (aber auch im Messezentrum oder Kampnagel) war ein höchst emotionaler Event. Die Bilder, die wir in den Medien davon sahen, sind angefüllt von Emotionen. Dein Körper, der sich in Relation zu den Handelnden im Bild der Projektionen während der Lecture Performance setzt, öffnet diese Emotionen und Affekte auf eine kontrollierte Weise. Ein Beispiel dafür ist für mich, wie du am Boden liegst vor den Scheinwerfern der Wasserwerfer (die auf allen vier Wänden des Kunstvereins um dich herum verliefen und blendeten). Dein Körper zeigt eine Verwundbarkeit innerhalb der Situation und es wird ein Raum hergestellt, in dem man sich das Geschehen zwischen Barrikaden und Wasserwerfer gut vorstellen oder erinnern kann. Durch die Gefasstheit deines Körpers und den analytischen Text wird diese spontane Emotion oder der Affekt der Bilder auf mich in eine Selbstbefragung meiner Wahrnehmung transformiert und zurückgenommen. Die Ebenen Abbild, Körper, Handlung und Zeichen tauschen einander permanent aus und befragen sich dadurch in ihrer Funktion und Anwendung im Handeln. Ohne den Live-Körper wäre das nicht passiert. Im Nachhinein würde ich sagen, man könnte noch mehr mit dieser Funktion der Verstärkung und Schwächung von Bildelementen durch einen realen Körper spielen, aber es ist anwesend in der Lecture Performance und war immer im Arbeitsprozess eine relevante Frage für mich, wenn ich dich (Irina) und das Bild sah. Für dich ist das natürlich anders, weil Du die Sicht der Performenden hast.
IK: Ich war als Vortragende und Performende immer im Geschehen, konnte dadurch also keinen Außenblick einnehmen. Selbstverständlich kann ich aus einer gewissen Selbst-Erfahrung im Sprechen und Bewegen das Feedback meiner Partner*innen damit abgleichen und so produktiv machen. Allerdings traf das insbesondere darauf zu, wie sich Text, mein Sprechen und die Videobilder zueinander verhalten – auf was ich meine Aufmerksamkeit richte, auf was ich reagiere, wie ich im Sprechen weiterdenke etc. Was ich selbst kaum beurteilen konnte, war wie das Verhältnis zwischen dem Bildraum, dem Spielraum, meinem Körper und den Videos war.
Eigentlich, so glaube ich, war das aber ein zentrales Element. Die Videos haben als Projektionen den Raum stark definiert. In dem Moment, in dem ich in den Projektionsraum eintrete, geht es um gegenseitige Einschreibungen von Körper, Schatten und Projektionen, gegenseitiges Sichtbar- oder Unsichtbarmachen, um Abstände und auch Verräumlichung der Projektionen durch den Körper. Diese ganzen Verflechtungen und Störungen haben wir im gemeinsamen Prozess meines Erachtens nicht wirklich präzise durchgearbeitet. Ich denke, es hat sich durchaus hergestellt, aber ich bin mir auch sicher, dass es noch präziser sein könnte.
Abschluss
Zum Abschluss möchten wir noch eine gemeinsame Linie formulieren: Was ist nun das Format einer Lecture Performance? Was haben wir gemeinsam gelernt, was wir mit Euch und Ihnen teilen wollen?
Uns ist beiden klar geworden, dass eine interdisziplinäre Kollaboration viel Zeit und Kommunikation braucht. Wir hatten das Glück, einen Rahmen zu haben, der uns ermöglichte, diese Zeit zu nehmen. Die Kollaboration hat viel Kraft gekostet, eben weil sie unsere jeweils eigene Logik verunsichert hat, sowie durch die Herausforderung der behandelten Situation. Dies auszuhalten führte aber dazu klarer und präziser, sowohl im eigenen als auch im kollaborativen Arbeiten zu werden.
Um einen solchen Verunsicherungsprozess zu ermöglichen und produktiv zu machen, ist es wichtig, die jeweils eigenen Interessen und ästhetischen Ansätze klar zu formulieren und verschiedene Zugänge klar zu konstellieren. Dafür gilt es organisatorische Notwendigkeiten, individuelle Ansprüche und Fähigkeiten mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf Fragen von Macht und Ermächtigung zu balancieren. So sollte man sich viel Zeit für das Aushandeln der Feedback-Formen nehmen. Das Austarieren von Respekt, Vertrauen und Kritik ist wichtig. Im Grunde muss die Feedback-Kultur der Person gelten, die das Feedback entgegennimmt oder bekommen möchte. Ist ein Vertrauen in der gemeinsamen Arbeitsweise erstmal etabliert, kann gerade die Verunsicherung neue Potenziale öffnen, die sich dem oder der Einzelnen nicht erschlossen hätten.3
1 Das war die Abschlusskonferenz des DFG-geförderten wissenschaftlichen Netzwerks „Affect- and Psychotechnology Studies – Emergente Techniken affektiver und emotionaler (Selbst)Kontrolle“, in dem Irina Kaldrack Mitglied war.
3 Siehe dazu Leeker, Martina. “Pain, Befallen-ness, Conflict, Mediocrity. Dark Entanglements for Artistic Research and Critique in Digital Cultures”. In Throwing Gestures. Protest, Economy and the Imperceptible, hg. von Florian Bettel, Irina Kaldrack und Konrad Strutz. Wien: Verlag für moderne Kunst.